Eva Baumann

Leseprobe Band 1: Leah

Ab Mitte Kapitel 1

Im Zimmer herrschte die gleiche Düsternis wie auf den Gängen. Flackerndes Kerzenlicht erhellte nur unzureichend den kleinen Raum. Auf dem Bett lag ein Mann, unbekleidet, nur ein Leinentuch über seinen Unterleib gebreitet. Sein Oberkörper und seine Arme waren nackt. Leah zuckte vor dem Anblick zurück. Nackte Haut bedeutete Gefahr, und selbst zwölf Jahre Arbeit als Gesetzeshüterin hatten sie nicht ausreichend abgehärtet. Ihr Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes. Seine unbedeckte Hand, die die Zeichnung seines Geburtsbaumes trug, ruhte in der Hand einer alten Frau, die am Bett stand. Leah packte ihr Schwert fester und trat in den Raum.
»Finger weg!«, herrschte Leah sie an. »Loslassen und zurücktreten!« Der Befehlston ihrer Stimme hatte bisher immer das Ziel erreicht. Auch hier. Die Heilerin zuckte zusammen. Sie drehte sich zu Leah um und schluckte schwer.
»Herr«, stieß sie zitternd hervor. »Er liegt im Sterben. Lang kann es nicht mehr dauern. Erlaubt mir …« Ihre Stimme brach weg.
Leah schluckte. Da war er wieder, dieser unerklärliche Widerstand gegen das Gesetz. Ein Widerstand, den sie würde brechen müssen – mit Gewalt, wenn es nötig war. Merkte diese Heilerin denn nicht, was hier auf dem Spiel stand? Sie hielt einem Alveronen die Hand! »Mit der Berührung nehmt Ihr ihm jegliche Chance auf einen würdevollen Tod«, zischte sie. »Euch Menschen mag es nicht erstrebenswert scheinen, ätherisch zu werden, aber für uns Alveronen ist es das höchste Ziel! Ich muss Euch erneut auffordern, ihn sofort loszulassen!«
Die Heilerin seufzte und ließ langsam die Hand des Alveronen los. Er schlug die Augen auf, blickte sich suchend um und tastete umher. Zu Leahs Entsetzen packte er die Hand der Heilerin. Er stieß den Atem aus und verdrehte die Augen. Sein Arm sank herab, und die Hand der Heilerin entglitt seinen Fingern.


Die Heilerin beugte sich vor, fuhr mit der Hand über die blicklosen Augen des Mannes und schloss sie. Dann legte sie seinen Arm über seinen Oberkörper, ergriff die andere Hand und faltete beide Hände auf seiner Brust. Sie ergriff die Enden des Leinentuches und bedeckte den Mann vollständig. Leah biss die Zähne aufeinander. Beide – Mensch und Alverone – hatten sich ihrem Befehl widersetzt. Der Mann war durch die Berührung vor seinem Tod bereits genug gestraft und würde in der Erde beigesetzt werden. Doch sie musste nun dafür Sorge tragen, dass die Frau keinem weiteren Alveronen durch unnötige Berührungen den Weg zu einem Luftbegräbnis verwehren würde.
Sie drehte sich zu ihrer Kompanie um und entließ sie mit einem knappen Nicken. Ihre Leute verbeugten sich, traten vor die Tür und schlossen sie von außen. Verbrechen wurden im Stillen geahndet. Während die Menschen in ihrer Welt gern Strafen zu einem großen Schauspiel ausweiteten, gingen die Alveronen im Geheimen vor. Wenn niemand genau wusste, mit welcher Härte bestraft wurde, stieg die Angst durch das Ungewisse.
Es war nichts Besonderes. Solche Situationen hatte es schon häufig gegeben, und ohne die Gesetzeshüter würde es sie noch häufiger geben. Leah bräuchte nur ihr Schwert einsetzen, und der Tod der Heilerin würde die Anzahl der Verbrechen umgehend senken. Es war ein schmaler Grat: Sie brauchten die Heiler, um die wenigen Menschen im Alverreich am Leben und bei Gesundheit zu halten – doch auch die Heiler mussten sich nach den Gesetzen des Reiches richten. Jeder wusste um die schweren Strafen … Wieso riskierten diese Menschen wieder und wieder ihr Leben?
»Warum?«, flüsterte Leah. »Warum habt Ihr ihm das angetan?«
Die Heilerin runzelte die Stirn, doch sie antwortete nicht. Glaubte sie etwa, Leah würde scherzen? Bei einem Verbrechen gegen den Glauben, auf dem ihre gesamte Gesellschaft aufgebaut war? »Die Frage war mein Ernst. Warum tut Ihr so etwas? Warum verbaut Ihr ihm den Weg zu einem Luftbegräbnis?«
Das Stirnrunzeln der Heilerin vertiefte sich. »Kein noch so prunkvolles Begräbnis oder die Aussicht auf das, was nach dem Tode kommen mag, kann die Angst schmälern. Die Angst, allein zu sein in den letzten Stunden. Wenn wir nichts mehr für die Lebenden tun können, begleiten wir den Tod. Niemand soll allein sein, weder Mensch noch Alverone. Wenn das ein Verbrechen sein soll, dann bin ich bereit, die Strafe auf mich zu nehmen. Für ihn.«
Leah schauderte. Der Gedanke daran, in den letzten Atemzügen einem Verbrechen wie diesem ausgesetzt zu sein … »Ihr müsst uns nicht berühren, um uns beim Sterben beizustehen!«, sagte sie scharf.
Ein trauriges Lächeln glitt über das Gesicht der Heilerin. »Ich denke, Ihr habt es gesehen, Herr … Er hat mich berührt, nicht ich ihn. Er wollte es.«
»Aber wieso?« Es gelang Leah nicht, zwischen all dem gerechten Zorn die Hilflosigkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten. Was sollte einen Alveronen dazu bringen, freiwillig eine Berührung herbeizuführen?
Die Heilerin schüttelte den Kopf. »Warum fragt Ihr, Herr? Wollt Ihr nicht endlich die Strafe vollziehen? Oder bereitet es Euch Freude, den schmerzhaften Moment herauszuzögern und mich zu quälen? Verzeiht, doch kein Alverone stellt solche Fragen! Es interessiert Euer Volk doch nicht, was –« Ihre Augen wurden groß. »Es sei denn, Ihr seid …«
Leah holte tief Luft. Nicht schon wieder. Sie hätte nicht zögern dürfen. Sie hätte nicht fragen dürfen. Die Frau hatte sie erkannt, und Leah musste handeln, bevor es zu spät war. Ihr Geheimnis musste gewahrt bleiben, und sie durfte es der Heilerin nicht erlauben, die Sagen um den Weidenritter mit dem heutigen Erlebnis zu ergänzen. Die Erzählungen mussten aufhören, bevor etwas davon an die Ohren des Adelsstandes drang und nicht nur Leahs Leben, sondern auch das ihrer Familie für immer zerstören würde.
Leah steckte ihr Schwert weg und zog die Peitsche. »Dreht Euch zur Wand«, sagte sie mit einer erzwungenen Kälte in der Stimme. »Macht schon!«
Die Heilerin sah ihr in die Augen. »Ich wünschte, wir wären uns unter anderen Umständen begegnet, Weidenritter. Tut, was Ihr tun müsst.« Sie drehte sich um. Leah hob die Peitsche. Sie musste es tun. Für ihre Familie. Sie sollten nicht für Leahs Schwäche büßen müssen.
Den ersten Hieb ertrug die Heilerin mit nicht mehr als einem Stöhnen. Der zweite riss ihr den Rücken auf, und ein Schrei schnitt durch die Luft. Leah biss die Zähne zusammen. Noch ein Hieb. Und noch einer. Zehn mussten es mindestens sein. Vielleicht reichten sieben, wenn sie kräftig genug schlug. Wenn sie die Wahl hatte, die unfreiwillige Hauptfigur eines Märchens zu sein oder die Frau bewusstlos zu schlagen, musste sie ihr Geheimnis wählen. Sie war nicht stark genug, ihre wahre Identität zu offenbaren. Wie so viele Male zuvor.
Und wie viele Male zuvor hasste sie sich dafür.