Eva Baumann

Leseprobe Band 2: Valentin

Kapitel 12

Jakob lag im Sterben. Der Vater würde das Kind verlieren, wie er bereits seine Frau verloren hatte. Valentin konnte die Stiche im Herzen spüren, denn der Reiter würde sein Rennen gegen die Zeit verlieren. Wohin auch immer er das Kind bringen wollte, hier, in dieser stürmischen Nacht, er würde nicht ankommen. Jakob würde sterben, bevor sie aus dem Wald heraus waren.
Deswegen war Valentin hierhergeführt worden. Der Traumzauber, der durch den verfrühten Einsatz zu unberechenbaren Ergebnissen geführt hatte, hatte sein Ziel nicht verfehlt: Valentin war hier und konnte das Kind holen. Nichts stand dem Erfolg seiner Mission im Weg. Er hörte Jakobs Stimme in seinem Kopf. »Erlkönig, rette mich! Bring mich dahin, wo es Musik gibt, und bunte Blumen … Wo die Ahornblätter tanzen …«
Das Pferd raste auf ihn zu. Valentins Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die Not des Vaters und die Not seines Volkes mischten sich zu einem Wehklagen, das den Sturm übertönte. Und immer dazwischen die zerbrechliche Kinderstimme: »Rette mich … Ich will mit dir kommen …«
Nur noch wenige Meter trennten ihn von Jakob. Er streckte die Arme aus, griff nach dem Jungen, packte ihn … Das Pferd war nur ein Nebel, der vom Wind zerrissen wurde. Valentin spürte es nicht. Er fühlte nur rauen Stoff unter seinen Fingern, ein schmales Handgelenk, er packte zu –
»Du nimmst mir mein Kind nicht!« Ein heftiger Tritt in die Magengrube ließ ihn taumeln, doch er krallte seine Finger um das Handgelenk des Jungen und zog. Pferd und Reiter stürzten. Ein lauter Schrei begleitete das Knirschen von Knochen, als das Bein des Vaters von dem Pferdekörper zermalmt wurde. War das Valentin gewesen? Hatte er ein Pferd zum Stürzen gebracht und den Vater schwer verletzt, vielleicht sogar getötet …
Ein Schrei zerriss die Nacht. Die Wolken rissen auf, als würde die Dunkelheit der Nacht niemals gegen die schwarze Verzweiflung in diesem Schrei ankommen. Bleiches Mondlicht beschien ein schmerzverzerrtes Gesicht, das in einem Schrei erstarrt war. Der Vater streckte die Hände nach seinem Kind aus, versuchte es zu greifen … Doch Valentin hatte Jakob fest in die Arme geschlossen und würde ihn nicht loslassen. Er hatte das Menschenkind, das sein Volk retten würde. Nun würde er es ins Alverreich schicken.


»Ich bin hier«, flüsterte er. »Ich bin gekommen, um dich zu holen. Geh hinüber, Jakob. Das Tor ist offen, du musst nur hindurchgehen.«
Der Sturm trug seine Worte durch die Nacht und warf ein glockenhelles Echo zurück. Er sah sich und das Kind in einem Kegel aus Licht und drehte sich um. Das Tor. So sah es also von der Seite der Menschenwelt aus. Ein magisches Licht, nicht grell und stechend, sondern warm, liebevoll, verheißend. Voll süßer Versprechen eines besseren Lebens.
Jakobs Herzschlag wurde schneller und kräftiger. Sein Atem ging tief und stetig, die tödliche Blässe verließ sein Gesicht. Sein nasses Haar glänzte im Mondlicht wie flüssiges Silber und erhellte das Ahornblatt, das sich in den verfilzten Strähnen festgehangen hatte. Ein Gruß seiner Mutter, den er mit ins Alverreich hinübernehmen würde. Valentin lächelte, und Jakob lächelte zurück. Der Moment, der wie eine Ewigkeit wirkte, dauerte nur einen Wimpernschlag. Jakob blickte zum Tor und nickte sacht. Das Licht hüllte ihn ein, und für den Bruchteil eines Augenblicks war alles in gleißendes Licht gebadet. Valentin kniff die Augen zusammen und schirmte sein Gesicht mit der Hand ab.
Als das Licht schwächer wurde und Valentin die Augen öffnete, war Jakob verschwunden. Der Tausch war geglückt. Valentin war in der Menschenwelt, während es Jakob ins Alverreich geschafft hatte. Das Tor schloss sich bereits, doch Valentin erhaschte einen kurzen Blick auf den Lindengrafen, der den Jungen lächelnd in Empfang nahm. Es war geglückt. Er hatte –
Schmerz schoss durch seinen Rücken. Valentin sackte zusammen, denn seine Beine konnten ihn nicht halten. Er riss die Arme hoch, um sich gegen den unsichtbaren Angreifer zu wehren, doch kein weiterer Schlag kam. Valentin rollte sich zur Seite und blickte zurück. Der Vater des Jungen hatte sich augenscheinlich vom Pferd befreien können, oder das Tier war selbst wieder auf die Beine gekommen, denn es war nirgendwo zu sehen. Der Mann lag zusammengekrümmt auf der Seite und hielt sich unter wüsten Flüchen sein blutendes Bein. Wie auch immer er es geschafft hatte, Valentin in den Rücken zu treten, war ein Rätsel, doch keines, das Valentin lösen wollte. Er kroch weiter von dem Mann weg, bis Bäume ihn verbargen.
Er lehnte sich gegen den Stamm einer Eiche – ebenjenes Torbaumes, der Jakob den Zugang ins Alverreich gewährt hatte. Mit zitternden Händen strich er sich die Haare aus der Stirn und verbarg sie unter der Kapuze. Er legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Durchatmen. Er hatte es geschafft. Jakob war drüben, und er war hier. Er würde sich auf die Suche nach seiner Familie machen können … sobald er sich etwas ausgeruht hatte. Er ließ sich auf den Boden sinken. Nur kurz die Augen schließen. Nur einmal tief durchatmen. Nur einmal die Gedanken nach Hause zurückkehren lassen, wo er nicht mit nasser Kleidung auf der Erde liegen musste …
»Majestät!«
Eine Stimme ließ ihn aufschrecken. Hatte er geschlafen?
»Wo seid Ihr?« Rascheln im Laub. Valentin blinzelte. War er wieder im Alverreich? Ging es so schnell, ohne sein Zutun, oder hatte er auf einem Instrument gespielt und das Tor wieder geöffnet? Er konnte sich nicht erinnern, gespielt zu haben.
»Hallo?«
»Er muss hier irgendwo sein, das Kind ist schließlich hinübergegangen.«
»Majestät, meldet Euch!«
Valentin öffnete die Augen und richtete sich auf. Soldaten in weißen Mänteln durchkämmten den Wald. Sie trugen Fackeln, die die Bäume in zuckende Schatten verwandelten. Es könnte beinahe albtraumhaft sein, doch diese Alveronen bedeuteten Hoffnung. Das musste ein Teil der Kompanie des Lindengrafen sein, jene Männer und Frauen, die die Anweisung bekommen hatten, im Torwald auf ihn zu warten. »Hier! Ich bin hier!«
»Majestät! Endlich!« Eine Frau kam auf ihn zugerannt. »Wir hatten schon befürchtet, Ihr wäret bereits ins Alverreich zurückgekehrt. Dabei sollten wir doch dafür sorgen, dass Ihr hierbleibt.« Die Frau lächelte.
»Ihr sollt … was?«
»Dafür sorgen, dass Ihr hierbleibt«, erwiderte ein Mann. Er kam auf Valentin zu, holte mit der Fackel aus und schlug ihm gegen die Knie. Valentin hörte Knochen splittern und sank in einer Wolke aus Schmerz zu Boden.