Eva Baumann

Leseprobe

Erinnere mich an den Winter
Prolog

»Nun mach schon, Kaia! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« Tante Iselda blieb am staubigen Wegesrand stehen und fuhr sich mit einem gepunkteten Taschentuch über den Kopf. Ihre dunkelgrauen Locken lugten schweißnass unter ihrem Kopftuch hervor. »Erst bringt Notos – ich meine, der Einzige Gott – den heißesten Sommer seit Jahren, und dann tollt meine Nichte lieber … Kaia! Hör auf mit dem Blödsinn! Raus aus dem Wasser! Was sollen denn die Leute denken!«

Kaia drehte sich um und grinste. »Es ist herrlich kühl, Tante Iselda. Komm doch mit rein!«

»Fällt mir im Traum nicht ein.« Tante Iselda stolperte den Weg zurück, bis sie ihre Nichte erreichte, die bis zu den Knien im Bach stand.

Das Mädchen hatte den Rocksaum zu einem Ball zusammengeknäult und balancierte ihn kurz über den Knien. Es lachte vergnügt, als würde nicht in der Ferne die Kirchturmuhr des zwei Meilen entfernten Dorfes zur Eile mahnen. Doch das wunderbare Wasser war wichtiger. »Wie schön die Wassertropfen glitzern … Zieh doch die Schuhe aus, Tantchen, das Wasser wird dir guttun.« Sie tauchte die Hände ins Wasser und ließ Tropfen regnen – durch die Luft und auf Tante Iselda.

Ihre roten Locken hatten sich aus dem Zopf gelöst, ihr Rocksaum hing im Wasser. Tante Iselda verzog das Gesicht. »Um vier Uhr stehe ich sonntags auf, um dein Kleid zu pressen – es muss nicht jeder auf den ersten Blick erkennen, dass du nur eine Magd bist«, knurrte sie. »Die ganze Arbeit umsonst. Raus jetzt.« Sie fuhr sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Stirn. »Wenn dich jemand sieht! Kein Wunder, dass du noch keinen Bräutigam hast. Andere sind mit vierzehn schon jemandem versprochen. Du wirst noch als alte Jungfer enden.«

»Wäre das so schlimm?«, fragte Kaia. Sie kletterte die Uferböschung empor und strich ihr Kleid glatt. »Das schöne Kleid«, murmelte sie betreten, und das lustige Glitzern in ihren braunen Augen erlosch. »Es tut mir leid, Tante Iselda.«

»Tut dir leid, tut dir leid … Davon wird es auch nicht besser.« Tante Iselda klang streng, aber ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln. »Bist eben noch ein Kind. Jetzt komm. Es geht gleich los.« Sie eilte voraus.

 

Das Glockengeläut wurde lauter, je näher sie dem Dorf kamen. Auf dem Kirchplatz drängten sich die Menschen, und ihre Stimmen vermischten sich mit dem Lärm der Glocken. Marktschreier priesen ihre Waren an, Bettler aus dem Armenhaus versuchten lautstark, auf sich aufmerksam zu machen, Kirchgänger riefen fröhlich durcheinander, Kinder tobten um den Brunnen in der Mitte des Platzes. Kaia steckte die Hände in die Taschen, um nicht wild durch die Gegend zu winken. Sie würde sich anständig benehmen, und in das Toben der Kinder einzufallen, gehörte ganz sicher nicht dazu.

Sehnsüchtig ließ sie ihren Blick über die Menschenmenge schweifen – und blinzelte. Nebel hatte das gleißende Sonnenlicht gebrochen. Nebel, als würde Euros, der Gott des Herbstes, statt seines Bruders Notos auf der Erde wandeln und das Dorf in Nebel tauchen. Euros, hier. Im Hochsommer, mitten auf dem Kirchplatz, zwischen den Marktständen. Sie rieb sich die Augen. Euros war nicht real, genauso wenig wie Notos. Die Götter der Jahreszeiten waren Märchen, die man kleinen Kindern erzählte. Der Einzige Gott herrschte über Vala, und er duldete keine anderen Götter. Jahreszeiten waren der Wille des Einzigen, und sie beugten sich dem Jahreslauf, der ebenfalls vom Einzigen bestimmt war. Das hier war kein Nebel. Nur ein Mann, ganz in Grau. Er lehnte an einem Stand, der Räucherware feilbot. Was Kaia für Nebel gehalten hatte, war ein schmaler Rauchfaden, der von einer Räucherschale ausging und den Mann einhüllte wie dicke Nebelschwaden. Plötzlich verzog sich der Rauch wie von einer starken Brise vertrieben, doch kein Lüftchen wehte.

Immerhin konnte Kaia den Mann nun besser erkennen. Seine graue Kutte stach zwischen all den bunten Kleidern hervor wie ein Kiesel in einer Schale voller funkelnder Edelsteine. Sein Haar hing grau und glatt über seine Schultern, doch sein Gesicht wirkte jung. Kaia dachte an den Knecht auf dem Hof, auch wenn der bei Weitem nicht so gut aussah. Felis war zweiundzwanzig, und er sah kaum jünger aus als dieser Mann hier. Kaia kniff die Augen zusammen, um ihn besser betrachten zu können. Zweiundzwanzig, ja, das könnte hinkommen.

Seine Kutte allerdings – das war nicht die Kleidung eines Knechts. Was Kaia für grob gesponnenes Leinen gehalten hatte, schien ihr nun feinste Wolle zu sein. Weiche, flauschige Wolle. Mit Silberfäden durchwirkt und mit Kristallen als Knöpfe … Wolle, so ein Unsinn. Es war ein heißer Tag, Tante Iselda wischte sich andauernd mit dem Taschentuch über die Stirn … Und doch war es nicht heiß, jetzt nicht mehr. Die Luft roch nach einem milden Frühlingstag, als würde morgens die Feuchtigkeit aus den frisch gemähten Wiesen aufsteigen.

»Kaia!« Die Stimme ihrer Tante holte Kaia aus den Tagträumen in die Wirklichkeit zurück. Sie winkte ihrer Tante zu und konnte sie auf die Entfernung kaum noch erkennen. Tante Iselda stand schon am Eingang zur Kirche, während Kaia immer noch an den Ständen verweilte. Kaia drehte sich schnell wieder um, zum Marktstand. Halb erwartete sie, dass der Mann sich in Nebel aufgelöst hatte, doch er stand unbeweglich an den Stand gelehnt. Seine grauen Augen blickten ins Leere. Eine Traurigkeit umschwebte ihn, die in all dem Trubel um sie herum umso greifbarer war.

Er hob den Blick und sah Kaia direkt in die Augen. Silbergrau, schoss es ihr durch den Kopf. Seine Augen sind von glänzendem Silber. Er wandte sich ab und fuhr mit der Hand über sein Gesicht, als würde er Tränen abwischen. Wahrscheinlich hatte er sie überhaupt nicht gesehen. Kaia sollte ihn besser schnell vergessen.

Und doch lenkte sie ihre Schritte auf ihn zu. Ein Blick aus silbergrauen Augen erfasste sie. Kaia hielt ihm stand und setzte Fuß um Fuß. Der Mann versteifte sich und beobachtete sie argwöhnisch, wie ein Tier den Jäger betrachten mochte, der es in die Enge getrieben hatte. Er sah nach rechts und links, dann hinter sich, als würde Kaia auf jemand anderen zugehen. Als wollte er ausschließen, dass sie ihn ansprach. Denn das würde sie, auch wenn ihre Zunge vor Aufregung schwer an ihrem Gaumen klebte und ihre Lippen sich trocken und rissig anfühlten.

Wie er hieß, wollte sie wissen. Was er hier tat. Warum er Kleidung trug, die in einem Moment wie grobes Leinen aussah, im nächsten wie feinste Wolle. Warum die Gluthitze, die seit Wochen die Menschen knechtete, seine Nähe mied.

Sie stand vor ihm und versank in seinem silbernen Blick. Er schien auf das Unvermeidliche gefasst, sie würde ihn ansprechen. Ihn, und niemand anderen. »Warum seid Ihr so traurig?«

Nicht das, was sie hatte fragen wollen. Nicht das, womit man das Gespräch mit einem völlig Fremden eröffnete.

Er sah sie an. Sein Blick verdunkelte sich, als würden Gewitterwolken über einen nebligen Himmel ziehen. Er antwortete nicht.

»Kann ich Euch irgendwie helfen?« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern, das beinahe im Lärm um sie beide herum ertrank. Doch sie wusste, er hatte sie verstanden, denn seine Augen blickten ratlos und fragend. Seine Stirn legte sich in Falten. Er blieb stumm.

Sie kaute auf ihrer Lippe. »Wie heißt Ihr? Ich heiße Kaia.« Sie wollte ihm ihre Hand entgegenstrecken, scheute aber davor zurück. Sie schlug die Augen nieder und knickste leicht. Er sollte sehen, dass sie gut erzogen war und eigentlich wusste, wie sie sich zu benehmen hatte.

Sie sah ihn an – vielmehr sah sie die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Keine Spur von ihm. Er hatte sich in Luft aufgelöst. In den Rauchfaden, der von der Räucherschale aufstieg, als hätte es nie eine Störung gegeben. Wärme überrollte sie, als würde sie eine Ofentür öffnen und in der Wand aus Hitze stehen. Die Sonne brannte unverändert vom Himmel.

Eine Hand packte ihren Arm. Kaia fuhr herum. »Da bist du ja, Kind! Warum bist du weggelaufen?«

»Was?« Kaia starrte in das rote Gesicht ihrer Tante. »Ich …«

»Und warum knickst du? Üben solltest du besser zuhause.«

»Da war jemand … ein Mann …« Kaia drehte sich um, suchte, doch der Fremde war nirgendwo zu sehen.

»Du sprichst fremde Männer an?« Tante Iselda wurde blass und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Das habe ich nicht gemeint mit ›du sollst heiraten‹! Man wartet, bis der Mann den ersten Schritt tut.«

»Aber –«

»Genug jetzt! Ab in die Kirche.«

Gehorsam trottete Kaia hinter ihrer Tante her. Sie setzten sich in die letzte Reihe, wie es sich für Frauen ihres Standes ziemte. Pfarrer Maius’ heisere Stimme waberte über die Köpfe der erschöpften Menschen, die sich in der wohltuenden Kühle des Gemäuers langsam wieder erholten. Gemurmel erhob sich, was Tante Iselda mit einem verärgerten Stirnrunzeln quittierte.

Kaia versuchte krampfhaft, der Predigt die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, doch der Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Gewiss war er ein übernatürliches Wesen. Wer hatte schon Kleidung, die in einem Moment grau und im nächsten weiß erschien? Silberne Augen? Vielleicht war er ein Engel. Pfarrer Maius hatte letzte Woche über Engel gesprochen, und der Mann kam den Beschreibungen ziemlich nah. Vielleicht könnte sie mit dem Pfarrer sprechen. Gleich nach der Predigt –

»Komm schon, wir müssen gehen.« Tante Iseldas drängende Stimme holte Kaia aus ihren Gedanken.

Kaia schreckte auf. Alle Leute hatten sich bereits erhoben und waren dabei, die Kirche zu verlassen. War die Predigt schon zu Ende? »Ich möchte den Pfarrer sprechen –«

»Nicht heute. Daheim warten Aufgaben – die Arbeit erledigt sich nicht von selbst.«

Tante Iselda zog Kaia aus der Kirche. Kaia verrenkte sich beinahe den Hals, doch von dem Fremden war keine Spur zu sehen.

 

***

 

Am Sonntag darauf lobte Tante Iselda, wie zielstrebig ihre Nichte den staubigen Weg zum Dorf entlangeilte. Der Bach wurde keines Blickes gewürdigt. Kaia brauchte ihre wertvollen Minuten für etwas anderes … jemand anderen. Sie stolperte beinahe über ihren Rock, als sie zum Marktplatz rannte. Wie am Sonntag zuvor stand der grau gekleidete Mann am Stand mit der Räucherware. Zum Glück war es heute nicht so heiß. »In der Kirche ist es immer so kalt«, sagte sie zu ihrer Tante, die sie inzwischen eingeholt hatte. Kaia rieb ihre Oberarme, als würde sie frösteln. »Ich will noch ein wenig in der Sonne stehenbleiben.«

»Verbrenn dir nicht die Haut!«, mahnte Tante Iselda. »Das schreckt die Männer ab.«

Kaia verdrehte die Augen. Sie wartete ungeduldig, bis ihre Tante in der Kirche verschwunden war. Stand der Mann noch dort? Ja, und er blickte sie an. Nicht argwöhnisch wie letzte Woche, eher angespannt. Er knetete seine langen, blassen Finger und ballte die Hände zu Fäusten, als Kaia auf ihn zuging.

»Boreas«, sagte er, und seine Stimme floss wie der Nebel, den er brachte. Die Luft schien silbern zu schimmern, wie Frost auf Herbstwiesen.

Kaia runzelte die Stirn. War das ein Gruß in einer fremden Sprache? Vielleicht hatte er letzten Sonntag nicht mit ihr geredet, weil er sie nicht verstanden hatte?

»Das ist mein Name«, sagte er. »›Reas‹ als Kurzform – wenn du möchtest.«

»So ein fremder Name …« Kaia schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Seine Stimme hatte sie in weiche Watte eingehüllt und schien die Welt draußen zu dämpfen, als läge dichter Nebel über dem Land und nur sie beide konnten sich sehen. »Euer Name ist nicht von hier, oder?«

Er blickte ernst aus steingrauen Augen. »Nein.«

Sie nickte langsam. »Reas.« Als sie es aussprach, verzog sich der Nebel und der weiße Himmel spannte sein Zelt über sie beide. Sie blickte staunend umher. Auch ohne Nebel waren der Marktplatz und die Kirche hinter einem Schleier verborgen. »Sind wir …« Kaia schluckte. »Seid Ihr ein Engel?«, fragte sie ehrfürchtig.

Halb erwartete sie, dass er sie auslachen würde, doch seine Miene versteinerte sich. »Nicht so, wie du es dir vorstellst, kleine Kaia.«

Sie nickte, obwohl sie nicht verstand. Seine Anspannung war greifbar. Seine Hände waren immer noch verkrampft. Doch sein Gesicht war ruhig. Konnte sie es wagen, weitere Fragen zu stellen?

»Was tut Ihr hier?«

»Ich beobachte die Menschen, die in die Kirche gehen.«

»Warum?«

»Weil ich nicht hineingehen will.«

»Warum wollt Ihr nicht in die Kirche gehen?«

»Weil ich gegen die Kirche eine Abscheu hege.«

»Was habt Ihr gegen die Kirche?«

Er musterte sie durchdringend.

»Verzeiht meine Neugier«, sagte Kaia hastig. »Es steht mir nicht zu, so viele Fragen zu stellen.«

»Oh doch, stelle Fragen. Kaia …« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Höre nie auf, Fragen zu stellen.« Er verbeugte sich.

Kaia blinzelte, und der Mann war verschwunden.

 

***

 

Er würde da sein, diesen Sonntag wie jeden anderen auch. Ganz sicher würde er sie wieder erwarten. Kaia strich ihr Kleid glatt und fuhr sich durchs Haar. Sie reckte den Hals und erblickte den Fremden, dessen Kutte weiß wie die Mittagssonne strahlte. Das Licht trieb ihr Tränen in die Augen. »Ich bin gleich wieder da, Tante Iselda, geh ruhig schonmal rein!« Kaia ließ ihre Tante stehen und huschte hinter einen Marktstand. Tante Iselda schüttelte den Kopf und verschwand in der Kirche.

Kaia ging schüchtern auf den Mann zu. Obwohl er nicht lächelte, schimmerten seine Augen hell. Etwas Aufmunterndes lag in seinem Blick. Nie aufhören, Fragen zu stellen, das hatte er doch gesagt, oder? Kaia beschloss, das Gespräch von letztem Sonntag erneut aufzugreifen.

Er sprach, bevor sie ihre Frage stellen konnte. »Ich beobachte die Menschen, die zur Kirche gehen, weil ich herausfinden möchte, warum sie glauben.«

Das war alles? Die Antwort wusste sogar Kaia. »Weil der Einzige Trost spendet. Er ist der liebende Vater«, antwortete sie fest.

Er kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist er gerecht, dieser liebende Vater? Sorgt er gut für seine Kinder?«

Kaia kaute auf der Unterlippe. Sie dachte an die Gutsherrin und deren Sohn. Dieser verzogene Bursche bereitete ihr nichts als Schwierigkeiten. Er stellte Unsinn an und gab Kaia die Schuld, die dann die Strafe einstecken musste. Immer und immer wieder. Sie dachte an Felis, der wegen kleinster Fehler geschlagen wurde und manchmal tagelang nichts zu essen bekam. An Tante Iselda, die trotz ihrer Schmerzen im Bein den weiten Weg auf sich nahm, um in die Kirche zu gehen, und trotzdem nie Erleichterung fand. Wenn sie es recht bedachte, musste sie sich eingestehen …

Sie sah den Fremden an. Warum tat er so etwas? Warum säte er Zweifel in ihrem Herzen?

Sein Blick ruhte unverwandt auf ihr. »Die Kirche beginnt. Du solltest hineingehen.« Etwas in seiner Stimme schien Kaia trotz der gesprochenen Worte zu bitten, zu bleiben, doch sie wollte Tante Iselda nicht länger warten lassen.

»Bis nächsten Sonntag?«

Er nickte ernst.

Kaia huschte in die Kirche. Während der gesamten Predigt rutschte sie unruhig auf ihrer Bank hin und her. Was der Mann gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Nach dem Ende des Gottesdienstes, als Tante Iselda aufstehen und mit allen anderen die Kirche verlassen wollte, hielt Kaia sie zurück. »Warte noch, ich muss mit dem Pfarrer sprechen.«

Tante Iselda zog die Augenbrauen in die Höhe, sagte aber nichts.

Kaia wartete, bis die letzten Menschen gegangen waren. Pfarrer Maius kniete am Altar, ins Gebet versunken. Kaia schlich nach vorne und kniete sich neben ihn. Sie wartete. Der Pfarrer bemerkte sie nicht.

Sie räusperte sich. Er zuckte zusammen und fuhr herum. »Kannst du nicht –« Er bemerkte ihr flehendes Gesicht und senkte seine Stimme. »Wie kann ich dir helfen, mein Kind?«

»Ich habe Fragen, Herr Pfarrer. Über den Einzigen und seine Engel.«

Er schmunzelte. »Es freut mich, dass meine Predigt so anregend war. Komm mit nach hinten in die Sakristei, dort können wir reden.«

»Bitte, Herr Pfarrer, können wir hier sprechen? Meine Tante sitzt noch dort drüben und wartet auf mich. Es wird auch nicht lange dauern.«

Sein Schmunzeln erstarb. »Meinetwegen«, antwortete er kühl. »Was willst du wissen?«

Kaia atmete tief durch. »Habt Ihr den Einzigen schon einmal gesehen?«

Er runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.

»Warum glaubt Ihr dann an ihn?«

Er riss entsetzt die Augen auf. »Ich weiß einfach, dass es Ihn gibt, dummes Kind!« Er holte tief Luft und sprach ruhiger weiter: »Es ist ein Gefühl im Herzen. Viele andere Menschen hatten Begegnungen mit Ihm, sie erzählen uns davon, in den heiligen Büchern.«

Kaia überlegte. »Aber diese anderen Menschen … Haben die ihn gesehen? Vielleicht haben sie sich nur Geschichten ausgedacht.«

Der Pfarrer schnappte nach Luft. Kaia hob beschwichtigend die Hände. »Also … also, wenn das alles wahr ist, dann gibt es … dann gibt es auch Engel?«

Er nickte. Langsam beruhigte er sich.

»Ich glaube nämlich … also ich glaube, dass ich einen gesehen habe.« Kaia beobachtete gespannt die Reaktion des Pfarrers.

»Einen Engel.« Verständnislosigkeit machte sich auf seinem Gesicht breit.

Kaia nickte fieberhaft. »Anders kann ich mir das nicht erklären.«

»Wie …« Der Pfarrer räusperte sich. »Wie sah er aus?«

»Nun, er ist … sehr schön.« Kaia spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Er hat graue, glatte Haare und ein ganz jugendliches Gesicht. Wie Felis, unser Knecht. Also das Gesicht, nicht die Haare. Felis ist zweiundzwanzig. Aber der Mann wirkt trotzdem älter. Und gleichzeitig jung. Also, ich meine …« Kaia stockte.

»Weiter.«

»Er trägt eine graue Kutte aus grobem Leinen, das manchmal wie feine, weiße Wolle erscheint. Er lächelt nie. Seine Augen sind das Schönste und gleichzeitig Unheimlichste an ihm. Sie sind grau, aber im Licht glänzen sie wie poliertes Silber. Und seine Stimme –«

»Du hast mit ihm gesprochen?« Der Pfarrer riss die Augen auf.

»Ja. Deswegen wollte ich mit Euch reden. Der Engel – wenn es ein Engel ist – hat Fragen gestellt. Über den Einzigen.«

Der Pfarrer erhob sich aus seiner knienden Stellung. Er winkte Kaia, und sie setzten sich in die zweite Bankreihe. Der Pfarrer stützte die Ellenbogen auf die vordere Reihe und faltete die Hände. »Über den Einzigen? Was wollte er wissen?«

Warum die Menschen an einen Gott glaubten, den sie nie gesehen hatten. Von dem nur Geschichten existierten. Und das »Gefühl im Herzen«. Reichte das? »Er meinte, wenn der Einzige der liebende Vater ist, ob er gut für uns sorgt? Und da dachte ich … nun ja … ich dachte an die Armut von manchen Menschen. Die Bettler aus dem Armenhaus, die sich vor Hunger kaum auf den Beinen halten können. Knechte und Mägde, die schlecht behandelt werden … Warum sorgt der Einzige nicht für uns? Wir sind doch gute Menschen, oder nicht? Wir gehen in die Kirche …« Kaia rutschte auf die Kante der Bank. »Und andere wiederum – andere haben alles, ohne sich anzustrengen. Sie sind böse und ungerecht, gehen nicht in die Kirche … Eigentlich müsste der Einzige sie doch bestrafen, oder? Wenn er gerecht wäre?«

Der Pfarrer umklammerte die Kirchenbank so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Hör auf«, keuchte er. »Hör auf mit diesen gotteslästerlichen Anschuldigungen!«

»Aber … es sind nur Fragen … Ihr habt doch sicher eine Antwort? Ihr wisst alles über den Einzigen, Ihr könnt doch antworten?« Kaia versuchte, ihre Verzweiflung nicht zu zeigen. »Der Mann war doch ein Engel, oder? Niemand kann silberne Augen haben und sich einfach in Luft auflösen …«

Er wendete ihr sein bleiches Gesicht zu. Dunkelheit umschattete seine Augen, obwohl durch die langen, schmalen Fenster goldenes Sonnenlicht die Kirche flutete. »Oh ja, das war ein Engel, dessen bin ich mir sicher. Ein Engel der Dunkelheit. Er hat Zweifel an dem einzig wahren Glauben in deinem Herzen gesät, und das vermag nur einer. Der Schwarze.«

Kaia krallte ihre Finger in die Kirchenbank. »Der Schwarze?«, flüsterte sie. »Sicher nicht … Ich meine … Er war so schön, und seine Stimme so weich …«

»Alles Methoden, um Menschen zu fangen, die nicht in ihrem Glauben gefestigt sind!«, dröhnte der Pfarrer. »Er lächelt nie, sagst du? Und du fragst dich noch immer, wer er ist?«

Kaia zuckte erschrocken zurück. »Aber was … Was wollte er von mir? Warum sprach er zu mir?«

Er sah sie an. »Du weißt, warum.«

»Weil … weil ich … in meinem Glauben nicht gefestigt bin?«

Er blickte streng auf sie herab. »Nimm dich in Acht, Mädchen! Der Schwarze erbeutet schwache Seelen und brät sie im Feuer! Es gibt kein Entrinnen – nicht in diesem Leben und nicht im Jenseits. Die Schmerzen, die du ausstehen musst, wenn du vom rechten Weg abkommst, sind unvorstellbar!« Er war während seiner Rede aufgestanden und hatte die Arme weit ausgestreckt, als wäre er in einer Predigt. Dann schlug er den Kreis des Einzigen und nahm die Hände vor der Brust zusammen, wie im Gebet.

Kaia sank auf ihrer Bank zusammen. Sie konnte das Feuer sehen, in dem ihre Seele verbrannte, konnte die Ketten spüren, mit denen sie in der ewigen Verdammnis gefangen war. Sie biss sich auf die Unterlippe, die zu zittern begann, doch die Tränen konnte sie nicht aufhalten. Sie sprang auf und packte den Pfarrer am Ärmel. »Herr Pfarrer, Ihr müsst mich retten!«

Er nahm ihre Hände und strich darüber. »Du kannst dich nur selbst retten«, antwortete er mit salbungsvoller Stimme.

Kaia zog ihre Hände zurück und wischte sich die Tränen ab. »Was soll ich tun?«

»Führe ein gottgefälliges Leben. Hinterfrage nicht unseren Gottvater und seine Gerechtigkeit. Sei zufrieden mit deinem Los, und kämpfe nicht gegen deinen angestammten Platz in dieser Welt an.«

Kaia nickte fieberhaft. »Das will ich tun, Herr Pfarrer. Danke.« Sie stand auf, knickste und eilte zurück zur letzten Bank, in der Tante Iselda eingeschlafen war. Kaia rüttelte sie wach.

Tante Iselda stöhnte mürrisch und rappelte sich hoch. Sie blickte Kaia an und schrak zusammen. »Was ist denn mit dir los, Kindchen? Du bist ja ganz blass!«

»Alles in Ordnung«, murmelte Kaia. »Lass uns heimgehen.«

Auf dem Marktplatz warf sie einen scheuen Blick zum Stand mit der Räucherware, doch wie an den Sonntagen zuvor war der Mann verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.

 

***

 

Kaia trottete hinter Tante Iselda her zum Dorf. Die Sonne brannte, und ihre Füße schmerzten. So gern sie durch den Bach waten wollte – ein gottgefälliges Leben führen, das war das große Ziel. Sie wollte dem Schwarzen keinen Grund geben, sie zu holen. Bevor sie in alle Ewigkeit für ihre Verfehlungen büßen würde, stolperte sie lieber durch den Staub am Wegesrand. Je näher sie dem Dorf kamen, desto lauter wurde die Geräuschkulisse. Auf dem Marktplatz sprachen alle durcheinander. Kaia hielt den Blick brav zu Boden geheftet. Würde der Fremde sie ansprechen? Sie versuchte, seine Stimme herauszuhören, doch da war nur Lärm.

Ein kurzer Blick, das würde nicht schaden. Nur sehen, ob er dort stand, wo er immer stand. Ob er auf sie wartete.

Ein Rauchfaden hüllte ihn ein, wie am ersten Sonntag. Seine Gestalt war nur schemenhaft zu erkennen, doch das war er, ganz sicher. Kaia schlug den Kreis des Einzigen und faltete die Hände. Sie konnte einfach weiterlaufen, in der kühlen Kirche Zuflucht suchen. Er wollte nicht in die Kirche, das hatte er selbst gesagt.

Sie beschleunigte ihre Schritte, dann hielt sie inne. Eine Sache musste noch geklärt werden. Sie wandte sich zur Seite, wo sich der dunkelgraue Schatten zu dem Mann mit dem schönen Gesicht und dem langen, glatten Haar verdichtete. Sein Blick war finster, die Augen wie geschmiedetes Eisen. Kein aufmunterndes Glitzern lag in diesen Augen, nicht einmal Argwohn und Vorsicht. Die Traurigkeit des ersten Tages war zurück, und sie schien die ganze Welt zu durchdringen.

Kaia holte tief Atem. Sie schmeckte Salz und Metall, als hätte sie sich die Lippen blutig gebissen. Sie schluckte und lenkte ihre Schritte auf den Mann zu.

»Was willst du noch?« Seine Stimme war voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit.

Er hatte sie verloren, deshalb war er traurig. Sie war seinen Fängen entkommen, weil der Einzige spürte, dass es ihr ernst war mit ihrem neuen Leben. Kaia sah dem Schwarzen fest in die stahlgrauen Augen. »Mein Glaube ist fest wie diese Kirchenmauer«, sagte sie und deutete auf das Gebäude hinter ihr. »Ich lasse mich von dir nicht verleiten.«

Er senkte den Kopf. Sein Haar glitt wie ein Vorhang vor sein Gesicht und verbarg seine Miene. »Ich weiß«, klang es dumpf hervor. »Leb wohl, Kaia.«

Er verschwand vor ihren Augen. Kaia starrte auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. War das alles gewesen? Das konnte, das durfte noch nicht alles gewesen sein! Wer beantwortete jetzt ihre Fragen? Wer behandelte sie wie einen erwachsenen Menschen, nicht wie ein dummes Kind? Wer sollte nun der Grund sein, weshalb sie jeden anstrengenden Marsch zum Dorf herbeisehnte?

Der Einzige, mahnte sie sich selbst. Der Einzige war der Grund, dankbar zu sein für alles, was sie hatte. Der Pfarrer würde ihre Fragen beantworten, wenn sie nur brav und bescheiden blieb. Erwachsen werden würde sie von selbst.

Sie wendete sich um und ging langsam zur Kirchentür. An der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. Doch der Mann in grau blieb verschwunden und erschien nie wieder.